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In einer Welt, die sich stetig wandelt und uns oft vor große Herausforderungen stellt, suchen wir nach Ankerpunkten, die uns Halt und Orientierung bieten. Dietrich Bonhoeffer wusste, woran er sich in schrecklichen Zeiten festhalten konnte. Der Theologe und Widerstandskämpfer zählt zu den markantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, dessen Gedanken und Schriften nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.
In diesem Blogartikel widmen wir uns daher 3 Gedichten von Dietrich Bonhoeffer, die trotz des fortschreitenden Wandels unserer Gesellschaft im Jahr 2024 nichts an Relevanz eingebüßt haben. Sie sind Zeugnisse eines tiefen Glaubens, einer unerschütterlichen Hoffnung und einer Liebe, die selbst in den dunkelsten Zeiten nicht erlischt. Lassen Sie uns gemeinsam in die Welt von Bonhoeffers Lyrik eintauchen und entdecken, was diese Gedichte uns heute – fast ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung – noch zu sagen haben.
1.Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten wunderbar geborgen
„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“
Vielleicht sind Sie diesem Gedicht, das mit diesen Zeilen beginnt, schon irgendwo begegnet. Bei einer Lesung, auf einer Grußkarte oder in einem Gottesdienst. Es wurde vielfach vertont und ist seit Jahrzehnten eines der beliebtesten Kirchenlieder. Das Alter und die Konfession scheinen dabei keine Rolle zu spielen. Die Zeilen rühren uns an und strahlen trotz vieler Anspielungen auf dunkle Erfahrungen doch Ruhe, Wärme und Zuversicht aus. Das Gedicht stammt von Dietrich Bonhoeffer, der es unter schweren Bedingungen niederschrieb und damit zeigt, was ihn getragen und gehalten hat.
Wer war Dietrich Bonhoeffer?
Dietrich Bonhoeffer wurde 1906 geboren und galt schon mit gut 20 Jahren als einer der hoffnungsvollsten jungen Theologen in Deutschland. Bereits mit 24 Jahren habilitiert, wurde Bonhoeffer Privatdozent für Evangelische Theologie. Er stellte sich bewusst in den Dienst der Kirche, wurde Pfarrer in London und leitete danach von 1935 bis 1937 das vom Regime verbotene Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin. Schon bald wurde er mit Redeverbot belegt. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges schloss er sich aktiv dem Widerstand gegen Hitler an. Er hatte dessen Führertum und Antisemitismus von Anfang an scharf kritisiert. Nun forderte er die Kirche auf, nicht nur den Verfolgten zu helfen, sondern sich auch direkt politisch zu positionieren und in Aktion zu treten.
„Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“[1]
Wie kam es zu diesem Gedicht?
Im Advent 1944 war Bonhoeffer schon 1 ½ Jahre inhaftiert, hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf baldige Entlassung und der Erwartung, möglicherweise zum Tode verurteilt zu werden. Der Putsch gegen Hitler vom 20. Juli 1944 war misslungen. Viele der Gefährten wurden umgebracht.
Wie hält man es in dieser Lage aus? Für Bonhoeffer war es der Glaube an Jesus Christus, der ihn durchtrug und den er in dieser Situation noch viel intensiver durchlebte als zuvor. Natürlich litt auch er unter den Kränkungen und Demütigungen, denen er als Häftling ausgesetzt war. Aber er wurde nicht wehleidig, sondern er war für die anderen da, wo es nur ging. Er schrieb Gebete für Mitgefangene, tröstete und ermutigte sie.
Die Einsicht, die dieses Gedicht vermittelt, gewann der 38-jährige Dietrich Bonhoeffer in einer engen Zelle im Keller der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Eine große Hilfe sind ihm dabei seine Familie und seine Freunde, die immer wieder zeigen, dass er nicht vergessen ist. Besonders seine Verlobte Maria von Wedemeyer kämpft beharrlich um eine Sprecherlaubnis, auch wenn das zunehmend schwieriger wird. Dass er so durchhalten kann, versteht man in mancher Hinsicht besser, wenn man den Briefwechsel mit seiner Braut liest.
An sie schreibt Dietrich Bonhoeffer am 19. Dezember 1944, und somit kurz vor Weihnachten, den Brief, in dem unser Gedicht von den „guten Mächten“ erstmals steht. In ihm blickt er auf das vergangene Jahr zurück und schaut – in aller Ungewissheit – auch voraus auf das vor ihm liegende Jahr.
Der Brief zum Gedicht
Wen und was meint Bonhoeffer mit den „guten Mächten“? Am deutlichsten wird es, wenn wir den Brief lesen, den er dazu an seine Verlobte schreibt:
„Meine liebste Maria!
Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes, unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied heißt: ‚Zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken’, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“[2]
Diesem Brief fügte Bonhoeffer sein Gedicht bei. Es ist heute nach wie vor für uns erstaunlich relevant, selbst wenn unser Leben von anderen Umständen gekennzeichnet ist. Denn auch wenn manches vor allem das Bekenntnis des Menschen Dietrich Bonhoeffer bleibt, kann es uns doch anspornen, ein tiefes Vertrauen zu Gott zu gewinnen –sogar in schweren, schrecklichen Zeiten. Lassen Sie uns gemeinsam ein wenig nachspüren, welch wunderbare Aussagen in den einzelnen Versen des Gedichtes liegen:
1. Strophe: Von guten Mächten wunderbar geborgen
„Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.“
Wenn Bonhoeffer von den „guten Mächten“ spricht, denkt er daran, dass Gott durch Menschen wirkt, die füreinander da sind. In dem Brief erwähnt er seine Eltern und Freunde, aber auch ihre Gebete und guten Gedanken, mitgeteilte Bibelworte und Musikstücke. All das hat Macht, um in schweren Zeiten Stütze zu sein. Vielleicht dachte er auch an Engel, die als Boten Gottes nicht durch Gefängnismauern abgehalten werden und in die Einsamkeit einer dunklen Zelle dringen können. Vor allem ist es aber Gott selbst, der mit seiner guten Macht der Schützende ist.
Jedes neu beginnende Jahr lässt mich zurückschauen und ich muss akzeptieren, dass mit jedem Jahr ein weiteres verflossen ist. Gerade als älter Gewordener wird mir bewusst, dass wieder ein Stück Lebenserwartung beschnitten wurde. Ich weiß nicht, wie viele Jahre mir noch bleiben werden. Doch ich will die Schwelle zu dem neuen Jahr in der tröstlichen Gewissheit überschreiten, dass ich nicht allein bin. Es gibt Menschen, die mir zur Seite stehen. Es ist Gott, der mir einen Frieden gibt, der höher ist als alle Vernunft.[3] So lässt sich in die Zukunft gehen.
2. Strophe: Das Heil, für das wir geschaffen sind
„Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.“
Der Rückblick, so belastend er ist, verwandelt sich bei Bonhoeffer direkt in ein Gebet, in einen Schrei nach Gott. Das Gebet führt ihn aus der Verzweiflung und Lähmung heraus. Er streckt sich danach aus, das Heil zu erfahren, für das uns Gott bereitet hat. Er ist überzeugt davon, dass Gott mit uns ein gutes, ein heilvolles Ziel hat. Er schreibt einmal: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“[4]
Das vergangene Jahr hat seine Spuren hinterlassen – manches wirkt noch quälend nach. Unruhe mischt sich mit Ungewissheit, die die Seele „aufschrecken“ lässt. Nur bei Gott finde ich den Beistand und die Hilfe. Nicht zuletzt gibt die Hoffnung auf das Heil, das seine Vollendung nicht in dieser Welt findet, einen sicheren Halt. In Jesus Christus finde ich das Heil, denn „in keinem anderen Namen ist Heil.“[5]
3. Strophe: Der schwere Kelch aus Gottes Hand
„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.“
Dietrich Bonhoeffer blickt voraus. Er weiß noch nicht, was das Jahr 1945 für ihn bringen wird. Aber er muss mit dem Schlimmsten rechnen – mit unmenschlichen Verhören, mit Verurteilung, mit dem Tod. Angesichts dieses Ausblicks schreibt er diese Zeilen. Er fand zu einem Vertrauen zu Gott, das ihn bis in seine letzten Tage durchtragen konnte. Davon haben Gefährten berichtet, die mit ihm zusammen waren und überlebt haben. Er schreibt einmal: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“[6]
Ich muss sagen, dass es mir sehr schwerfällt, diese Strophe mitzusingen. Doch ich will mich anstecken lassen von dem Vertrauen, das aus diesen Zeilen spricht. Unweigerlich denke ich an die andere Geschichte, in der vom Leidenskelch die Rede ist. Es ist die Szene aus dem Garten Gethsemane, wo Jesus Gott bittet, den Kelch des Leidens an ihm vorübergehen zu lassen – und doch sagt: „Nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (vgl. Die Bibel: aus Matthäus 26,39). Damit willigt Jesus ein, für uns alle den Tod zu sterben. An ihn will ich mich hängen, was auch immer kommt.
4. Strophe: Die Freude als Geschenk Gottes
„Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.“
Und dann kann Dietrich Bonhoeffer doch auch noch einmal von einem ganz neuen Morgen sprechen. Er gibt die Hoffnung nicht auf, doch noch mit einem guten Ausgang zu rechnen. Er spricht von der Möglichkeit, frei zu werden und das Leben neu zu erfahren. In der dunklen Zelle entsteht ein Bild von der Welt mit ihrer ganzen Helle und Schönheit. Das heißt auch ein Neuanfang nach Leiden, Schmerzen und Angst.
Gerade dann, wenn mir Gutes widerfährt, ich mich am Schönen freuen kann, will ich umso mehr Gott danken. Sich an der Schöpfung freuen, erhellt die Seele. So auch die Freude, mit anderen unterwegs zu sein, dankbar über Erlebtes nachzudenken und das mit ihnen zu teilen. Jetzt erst recht will ich in der Hingabe an den leben, dem ich mein Leben verdanke.
5. Das warme Licht in der Nacht
„Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.“
Wir können nicht davon ausgehen, dass Dietrich Bonhoeffer Kerzen in seiner Zelle hatte. Und doch liegt der Gedanke daran in der dunklen Jahreszeit nahe. Er sieht sie leuchten, spürt ihre Wärme und die Helligkeit. Er kann sie sehen, weil er es so oft gesehen hat. Er denkt an das vertraute Zusammensein in der Familie und mit Freunden in dieser Zeit. Wie schön wäre es, wenn es wieder so sein könnte.
Das zeigt, wie prägend festliche Zeiten sein können. Sie helfen mir, innezuhalten und mich zu erinnern. In der Weihnachtszeit insbesondere auch daran, dass mit Jesus Christus tatsächlich das Licht in diese Welt gekommen ist. Dieses Licht steht der zerstörerischen Macht der Finsternis entgegen. Es lässt mich auch gestärkt durch dunkle Stunden hindurchgehen und das Licht wahrnehmen, wo die Nacht noch finster ist.
6. Strophe: Die Stille, die sich ausbreitet
„Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.“
Es ist wie ein Wunder: Die dunkle Zelle, in der Dietrich Bonhoeffer sitzt, wird zum Ort der Stille, der Ruhe und der Einkehr. Da weichen auf einmal die engen Mauern. Unsichtbar weitet sich die Welt um ihn, ein Raum tut sich auf, wie ein festlicher Konzertsaal. Es erklingt ein einzigartiger weltumspannender Gesang all derer, die Gott in ihren verschiedenen Sprachen, Melodien und Rhythmen loben. Es mutet so an, als würde die himmlische Welt in diese Zelle hineinreichen.
Ich muss es mir selbst eingestehen, dass die himmlische Wirklichkeit, die kommen soll, mich mit zunehmendem Alter sehr berührt. Gerade bei entsprechenden Liedern kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich kann ahnen, was Johannes in dem Buch der Offenbarung schrieb:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. … Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! …“
(Die Bibel: Offenbarung 21,1.4–5)
7. Strophe: Gott ist bei uns an jedem neuen Tag
„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Zu Recht sind dies die bekanntesten Worte Bonhoeffers geworden. Sie bilden einen gewaltigen Schlussakkord in der Symphonie dieses Gedichtes.
Was immer uns auch trösten mag, es ist Gott selbst, der mit seiner Gegenwart uns getrost weitergehen lässt. Wie oft wird in der Bibel betont, dass Gott mit den Menschen ist, die ihm ihr Vertrauen schenken. Das findet sich auch in dem Namen wieder, der zu einem Namen von Jesus, dem Sohn Gottes, wurde: „Immanuel“. Das heißt schlicht: „Gott mit uns“. Das bedeutet nicht, dass wir über ihn verfügen. Es heißt vielmehr, dass sich Gott an unsere Seite stellt. Denn ohne ihn lässt sich nicht Mensch sein, so wie Gott es sich für uns gedacht hat. Aus der Zwiesprache mit Gott kommen die Ruhe und die Gelassenheit. Aus dem Gebet erwächst die Kraft standzuhalten, sich getröstet und geborgen zu wissen, um sich dann tapfer auf den Weg zu machen in ein neues Jahr.
Auch wenn dieses Gedicht sicherlich das bekannteste von Dietrich Bonhoeffer ist, so gibt es weitere Texte von ihm, die noch heute für uns relevant sind.
2. Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: Wer bin ich?
Diese Frage beschäftigt jeden Menschen irgendwann. Als Teenager und Jugendlicher taucht sie auf und kann zu einer quälenden Frage werden und in eine große Unsicherheit führen. Aber auch als Erwachsener und sogar älter Gewordener kommt die Frage nicht automatisch zur Ruhe. Wir brauchen darauf eine Antwort, von der wir überzeugt sind, dass sie trägt.
Auch hier kann uns ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer eine wesentliche Hilfe bieten. Das Gedicht Wer bin ich? schrieb er im Gefängnis von Berlin-Tegel im Juli 1944 kurz vor dem fehlgeschlagenen Attentat auf Adolf Hitler. Diese Frage drängt sich ganz besonders auf, wenn man, aus welchem Grund auch immer, zum Nichtstun verbannt ist. Wenn man unendliches Leid miterlebt und um das eigene Leben bangen muss. Zunächst spricht Bonhoeffer davon, wie er den Gefängniswärtern erscheint. Wie erleben ihn die Mitmenschen?
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.“
So sieht der Gefangene aus im Spiegel der Mitmenschen. So formt sich sein Bild in ihren Augen. Das Urteil der anderen fällt dabei ausnehmend positiv aus: gelassen, heiter, fest – frei, freundlich, klar – gleichmütig, lächelnd und stolz – drei Mal drei Eigenschaften, die andere ihm zuschreiben. Aber bei all dem, was andere über uns sagen, in uns selbst sieht es oft ganz anders aus. So auch bei Dietrich Bonhoeffer. So vieles in seiner Seele steht in krassem Widerspruch zu dem, was andere über ihn sagen. Er spricht davon, wie er sich selbst erlebt:
„Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?“
Das Gedicht führt uns eindrücklich die Situation Bonhoeffers in der Haft vor Augen. Er wartet darauf, dass der Anschlag auf Hitler endlich stattfindet und rechnet mit dessen Gelingen. Er leidet unter der Isolation, unter der Haft, darunter, nichts tun zu können und alles nur passiv ertragen zu müssen. So erfährt der Gefangene sich selbst als Angefochtener, ein müde Gewordener. Die beiden Bilder geraten in Konflikt miteinander:
„Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?“
Wie lässt sich dieser Konflikt lösen? „So sehen mich die anderen – so erlebe ich mich selbst.“ Was gilt? Was ist die Wahrheit, was Täuschung? Bonhoeffer fragt: „Wer bin ich?“ Die Antworten auf diese einfache Frage gehen weit auseinander und zerreißen ihn fast. Weder wie andere ihn sehen noch wie er sich selbst sieht, ist für Bonhoeffer überzeugend. Die Antwort auf seine Frage, wer er ist, findet Bonhoeffer nicht in der Welt, die ihn umgibt, noch in der Welt, die seine eigene Seele darstellt. Die Antwort auf diese Frage entdeckt Bonhoeffer in seinem Glauben. Er entdeckt sie bei Gott. Sein Fragen nach sich selbst mündet am Schluss des Gedichts in ein Gebet, in dem er all sein Fragen und all die auseinanderstrebenden Antworten an Gott abgibt und ihm überlässt.
„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!“
Von sich selbst, von Haus aus, weiß der Mensch nicht, wer er ist. Es muss ihm von Gott gesagt werden. Gott allein ist der Bezugspunkt. Nur, wer sich Gott überlässt, kommt zur Ruhe. Hier gilt auch, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber so auf den Punkt brachte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Nur in Beziehung zu einem Du kann sich unser Ich entwickeln. Und das gilt vor allem in Bezug auf Gott, der uns geschaffen und gewollt hat.
Dazu sandte er Jesus, seinen eigenen Sohn, zu uns, damit wir in dieser vertrauten Beziehung zu Gott kommen können. Und dabei eine neue, innere Freiheit erleben. Auch die Freiheit, nicht vom Urteil anderer abhängig zu sein. Und ebenso auch Freiheit von einer ungesunden Selbstbezogenheit.
Einfacher kann man es nicht sagen, als mit den Worten, mit denen Dietrich Bonhoeffer sein Gedicht abschließt:
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
3. Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: Stationen der Freiheit
Das dritte Gedicht schrieb Bonhoeffer ebenfalls im Gefängnis in Berlin-Tegel, in dem er bereits seit Monaten saß. Umso eindrücklicher sind seine Gedanken, die er in Stationen der Freiheit zu Papier brachte. Dabei handelt es sich aus Sicht Bonhoeffers noch nicht einmal um ein ausgefeiltes fertiges Gedicht. Die festgehaltenen Zeilen seien, so schrieb er seinem Freund Eberhard Bethge, eine erste Skizze, von der er hoffte, diese später fertigstellen zu können. Obwohl er dazu nicht mehr kam, ist schon dieser erste Entwurf zutiefst beeindruckend. Wie kann ein Mann, dessen Lebensgeschichte von Gefangenschaft und Drangsal geprägt war und mit der Hinrichtung endete, solch visionäre Gedanken zum Thema Freiheit zu Papier bringen? So haben seine Worte auch uns heute noch viel zu sagen. Denn selbst ohne tatsächliche Gefangenschaft hinter Gittern kann es auch in unserem Leben Umstände, Gedankengebäude und Verhaltensweisen geben, die uns gefangen nehmen.
Zucht
„Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.“
Das Wort „Zucht“ scheint auf den ersten Blick überhaupt nicht zu Freiheit zu passen. Doch beim näheren Hinsehen zeigt sich Folgendes: Wer sich von seinen Launen und spontanen Gefühlen leiten lässt und seinen Stimmungen nachgibt, ist nicht wirklich frei. Nur wenn wir beispielsweise lernen, unsere Emotionen zu beherrschen und bereit sind, an unseren Schwächen zu arbeiten, können wir selbstbestimmt agieren und Freiheit im Handeln erleben. Erst Disziplin – oder „Zucht“, wie Bonhoeffer es nennt – macht uns innerlich frei, ein Ziel zu verfolgen und das dazu Nötige zu tun.
Tat
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.“
Aus der Haltung, ein gutes und lohnendes Ziel zu verfolgen, ergibt sich der Dreiklang, den Bonhoeffer so beschreibt: das Rechte, das Wirkliche, die Tat. Wir haben ein gutes Gefühl, wenn wir die Gewissheit gewinnen, im Moment das Rechte und Angemessene zu tun. Auch dann, wenn andere es nicht verstehen. Bonhoeffer wusste, dass dies eine Entschiedenheit erfordert, die sich an Gottes Willen und Maßstab orientiert und letztlich nur aus Glauben heraus möglich ist. Ein Glaube, der beflügelt und dazu befähigt, hier und jetzt mutig das Richtige zu tun und einen Unterschied zu machen.
Leiden
„Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.“
In Momenten der Zufriedenheit, wenn wir etwas erreicht haben, dürfen wir erkennen: Es ist Gott, der uns befähigt. Denn gerade in der Abhängigkeit von den „stärkeren Händen“ Gottes finden wir Ruhe und eine Freiheit, die weit über das hinausgeht, was wir aus eigener Kraft erreichen könnten.
Freiheit und Abhängigkeit – sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, wenn wir Gottes Durchtragen im Leid erleben. Durch die Nähe Gottes erfahren wir nach der Freiheit der Tat eine Freiheit der Geborgenheit, die uns zu einem guten und herrlichen Ende führen kann. In dieser Abhängigkeit von Gott liegt unser Glück, denn sie schenkt uns eine Freiheit, die unser Geist jauchzend empfängt und die uns in allen Lebenslagen zu tragen vermag.
Diese Freiheit, die Bonhoeffer beschreibt, blüht gerade in Ohnmacht und Leid auf. Es ist die Freiheit, schwach und tatenlos sein zu dürfen, getröstet durch das sanfte Streicheln einer Hand – Gottes Hand. Es ist eine Freiheit, die entsteht, wenn wir uns mit Haut und Haaren jemandem anvertrauen, der uns unabhängig von unserer Leistungsfähigkeit liebt.
Tod
„Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
Bonhoeffer erkennt im Angesicht des Unabwendbaren eine Freiheit, die über die physische Existenz hinausreicht. Im Gefängnis, umgeben von der Drohung des Todes, findet er eine Vollendung in der Freiheit „im Angesicht Gottes“, die keine irdischen Grenzen kennt. Denen, die sich als Gebieter über Tod und Leben gebärdeten, trat er mit dem Glauben gegenüber. Denn, indem Bonhoeffer den Tod als Beginn eines neuen Lebens und nicht als Ende betrachtet, entmachtet er die, die ihn bedrohten. Sein Glaube triumphiert, wenn er den Tod wie eine ersehnte Geliebte besingt und ihm so den Schrecken nimmt. Bonhoeffer wusste, dass es in Gottes Gegenwart eine Freiheit gibt, die wirklich vollendete Freiheit ist.
Bonhoeffer wurde am Morgen des 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg durch Erhängen hingerichtet. Einem Mitgefangenen sagte er: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ Das ist Freiheit, die über dieses Leben hinausreicht. Es ist die Freiheit „im Angesicht Gottes“, die kein Ende kennt.
________________
[1] Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW, Band 12, S. 353)
[2] R.-A. von Bismarck und U. Kabitz (Hg.): Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945, München: C. H. Beck, 1992, S. 208
[3] vgl. Philipper 4,7
[4] Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung (1943), S. 22
[5] aus Apostelgeschichte 4,12
[6] Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung (1943), S. 22
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